Dienstag, 1. Dezember 2015

Provinz! Mutlos! Sportverächter! - Zur Abstimmung über Olympia in Hamburg

Ich habe mich in den letzten Tagen sehr geärgert.

Dies vorweg: Ich bin kein Hardcore-Olympiagegner. Ich interessiere mich mäßig für Sport, gar nicht für Leichtathletik, überhaupt gar nicht für irgendeinen Leistungssport (außer Fußball). Wenn Sport, mache ich den lieber selbst. Mannschaftsportarten sind mir fremd. Ich bin kein Wettkämpfer. Ich messe mich nicht gern mit anderen, und ich schaue anderen dabei auch nicht gern zu (Ausnahme: Fußball, aber auch da interessiert mich Mädchen eher das Spiel als der Sieg meiner Mannschaft). Großveranstaltungen müssen ohne mich auskommen. Nach einer Woche hier in Brüssel mit Terrorwarnstufe 4 und Militärpräsenz überall, geschlossener Schulen und Geschäfte und gesperrter Metro ist für mich ein Leben mit der Angst vor einem Terroranschlag nicht mehr abstrakt. Paris ist um die Ecke. Die Gefahr ist konkret, und es hat sich sehr schlecht angefühlt in der letzten Zeit.
Andererseits bin ich in der Lage zuzugeben, dass das Thema Olympia komplex ist. Den Gedanken, den Schwung einer Bewerbung zu nutzen, um die Infrastruktur voranzubringen, finde ich gut. Ein Gegenkonzept zu den Megaspielen zu entwickeln, finde ich modern und angemessen. Ich nehme wahr, dass es viele Menschen gibt, die in Bezug auf Leistungssport anders denken als ich, und für die Leichtathletik das ist, was für mich Fußball ist. Die Wettkämpfer sind und die Wettkämpfe lieben.
Daher hätte ich vielleicht gar nicht abgestimmt und gedacht, ich kann mit beidem leben. Beide Seiten haben gute Argumente. Sollen die entscheiden, die sich sicher mit ihrer Meinung fühlen.
Ich glaube kaum, dass ich damit alleine bin. Und ich bin der Ansicht, dass niemand gezwungen werden kann, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund finde ich die Wahlbeteiligung von 50 Prozent erstaunlich, insbesondere im Vergleich mit anderen Referenden. Oder mit der Bürgerschaftswahl. Ich finde sie erstaunlich hoch. Wenn die Enttäuschten nun lamentieren, dass "nur" 50 Prozent der Abstimmungsberechtigten abgestimmt haben, ist das, mit Verlaub gesagt, Blödsinn. Das war viel, und es war ein Zeichen für ein großes Interesse.
Worüber ich mich aber richtig ärgere, ist das Wählerbashing, das im Nachgang stattgefunden hat. Ich finde das an sich schon nicht ok, ich glaube aber auch, dass eine so zur Schau getragen Wählerverachtung zu noch mehr Politikverdrossenheit führt, und daher finde ich das sogar gefährlich.
Schauen wir uns die Fakten an: Die Pro-Fraktion hatte die Regierung, die Bürgerschaftsfraktionen überwiegend, die Medien, die Kaufleute, viele Unternehmen, die Plakate, die großen Veranstaltungen, einen beliebten Bürgermeister hinter sich. Viel mehr Geld, eine große Präsenz und nicht zuletzt eine Basis sportbegeisterter und (Sport-)eventerfahrener Hamburger. Hamburger, die in jedem Jahr bei Sportgroßveranstaltungen mitmachen oder an der Straße stehen. Die andere Events aushalten oder genießen. Und trotzdem wollte eine Mehrheit derjenigen, die abgestimmt hat, Olympia nicht. Warum? Weil sie mutlos, provinziell, satt und feige sind? Alles gelesen. Weil sie sich nicht für Sport interessieren? Weil sie gerne dicke Kinder haben wollen, die nur bei MacDonalds essen (ebenfalls gelesen)? Weil sie zu doof sind (Abendblatt zitierte Franz Josef Strauß "vox populi, vox Rindvieh")? Sollte man jetzt Referenden wieder abschaffen? (mehr als einmal gelesen) Ehrlich jetzt,was für eine bodenlose Frechheit.
Ich übersetze das mal: Referenden sind gut, wenn das herauskommt, was herauskommen soll. Wenn eine Medienkampagne nicht dazu führt, dass die Bürger das entscheiden, was sie sollen, sind sie zu blöd zum Abstimmen, und nicht die Kampagne ist gescheitert, sondern das Instrument der Abstimmung. Wer Olympia nicht will, interessiert sich nicht für Sport (gerade in Hamburg eine echte Frechheit, die Hamburger interessieren sich nach meiner Wahrnehmung irritierend stark für Sport). Wer Olympia nicht will, ist provinziell. Ich finde, es ist ok so provinziell wie die Osloer, Stockholmer und Münchner zu sein. Das sind übrigens alles Städte, über die die Meinung nicht vorherrscht, dass dort die Bevölkerungsmehrheit ungebildet und zu dumm zum Wählen ist.
Man kann das "Nein" bedauern, das ist in Ordnung. Man kann es kurzsichtig und falsch finden. Aber liegen in einer aufgeklärten Stadt wie in Hamburg nicht eher andere Gründe als die Genannten auf der Hand? Wie ist es damit, dass man seit vielen Jahren den Bürgern beigebracht hat, das nichts so wichtig ist wie solides Haushalten (übrigens gerade ein Credo dieser Regierung!), und aufgrund der Zurückhaltung des Bundes vielleicht hier eine Sorge lag? Wie ist es damit, das man - gerade in Hamburg - sehr viel wert auf "ordentliches Regieren" legt, und vielleicht hier das Gefühl vorherrschte, dass die aktuellen Herausforderungen (Flüchtlingsunterbringung und Integration, Schule...) zunächst zu bewältigen sein sollten? Wie ist es mit den Zweifeln an der aktuellen Struktur an Leistungssport und der Rolle von Leistungssportfunktionären? Vielleicht stehen Bürgerinnen und Bürger in diesen Zeiten weniger auf Leuchttumprojekte und mehr auf die möglichst vernünftige Bewältigung des herausfordernden Alltags? Das kann man alles bedauern. Das kann man kleinmütig finden. Aber es ist eine Sache von Anstand und Fairness das zu akzeptieren als das, was es ist: eine Entscheidung mündiger Bürger.

Nachtrag: Ergänzung eines befreundeten Sportjournalisten (Danke, Tim): Mitglieder im Hamburger Landessportbund (Erhebung von 2014 laut DOSB): 575.000. Davon stimmberechtigt beim Referendum ca. 450.000 (geschätzt, Altersangaben werden nur grob erhoben). Ja-Stimmen beim Referendum: 315.000.



Alles auf Anfang

Dies ist mein erster Post seit langer Zeit. Ich will versuchen, nun häufiger zu schreiben. Erst einmal herzlich willkommen!